Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Kontinuität der Gesundheitsversorgung von Risikopatient*innen
The impact of the COVID-19 pandemic on the continuity of care for at-risk patients in Swiss primary care settings: A mixed-methods study
Deml MJ, Minnema J, Dubois J, Senn O, Streit S, Rachamin Y, Jungo KT
Social Science & Medicine 298 (2022)
Hintergrund:
Eine kontinuierliche Gesundheitsversorgung ist wichtig für die Gesundheit älterer Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten, wie z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes oder Krebs. Diese Populationen gelten gleichzeitig als sogenannte COVID-19 Risikopatient*innen. Die ersten Kampagnen zur Eindämmung des Coronavirus mit Botschaften wie «Bleiben Sie zu Hause - Retten Sie leben» und das Verbot von nicht dringenden Behandlungen im Frühling 2020 (erster Shutdown) sorgten deshalb für Unsicherheiten bei COVID-19 Risikopatient*innen und deren Hausärzt*innen bezüglich der Möglichkeiten von nicht-COVID-19-bezogenen Gesundheitsdienstleistungen.
Methoden:
Wir haben ein Mixed-Methods-Design angewandt, das aus einer quantitativen Komponente und einer anschliessenden qualitativen Komponente besteht, um die Gesundheitsversorgung von Risikopatient*innen während des ersten Kalenderjahrs der COVID-19-Pandemie (2020) in der Schweiz zu untersuchen. Die quantitativen Daten stammten aus elektronischen Krankenakten von 272 Hausärzt*innen deren 266’796 Patient*innen. Auf dieser Grundlage prognostizierten wir die wöchentlichen Konsultationszahlen sowie die Anzahl der Messungen von Blutdruck, glykiertem Hämoglobin (HbA1c) und Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL-C) pro 100 Patient*innen, die im Jahr 2020 ohne Pandemie zu erwarten gewesen wären, und verglichen diese mit den tatsächlich beobachteten Zahlen. Die qualitativen Daten stammten aus 23 halbstrukturierten Interviews mit Hausärzt*innen und 37 Interviews mit Risikopatient*innen.
Ergebnisse:
Die quantitativen Ergebnisse zeigten einen signifikanten Rückgang der Konsultations- und Messraten während des ersten Shutdowns, wobei sich die Konsultationsraten schnell wieder normalisierten und für den Rest des Jahres 2020 innerhalb der erwarteten Werte bewegten. Qualitative Daten kontextualisieren diese Ergebnisse, wobei die Hausärzt*innen von der ständigen Implementierung materieller, administrativer und kommunikativer Neuerungen berichteten. Die Hausärzt*innen beschrieben Kommunikationslücken mit den Behörden und wiesen darauf hin, dass es an klaren Richtlinien fehlte, z.B. bezüglich der Definition von «Risikopatient*innen» oder von «dringenden Behandlungen». Die Befragung der Patient*innen zeigte, dass Faktoren auf Patient*innenebene, wie z.B. die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus, die Wahrnehmung, dass die Hausärzt*innen überlastet waren, sowie Gefühle der Solidarität, die Entscheidung der Patient*innen, zu Beginn der Pandemie weniger Hausärzt*innen aufzusuchen, teilweise erklärten.
Schlussfolgerung:
Unsere Ergebnisse zeigen Kommunikationslücken in Pandemiezeiten auf und liefern wertvolle Lehren für die künftige Pandemievorsorge, insbesondere die Notwendigkeit von Notfallplänen für das gesamte Gesundheitssystem anstelle von Plänen, die sich nur auf den Infektionserreger selbst konzentrieren.